Standortbestimmung zu Diabetes mellitus Typ 2


Der Umgang mit Typ-2-Diabetikern wird zunehmend frustran erlebt, woran liegt das eigentlich? Sicher geht es nicht nur mir so, dass dieses leise Gefühl entsteht: „Hier stimmt etwas nicht“,

Fassen wir noch einmal zusammen, was wir wissen:

Es handelt sich um eine schwerwiegende Erkrankung, man geht von einer um 6 Jahre verkürzten Lebenserwartung aus. Entscheidend sind dabei die Komplikationen aufgrund der Mikro- und Makroangiopathie. Etwa 70 % aller Diabetiker versterben an Herzinfarkt oder Schlaganfall. Die postprandiale Hyperglykämie hat sich als unabhängiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Komplikationen erwiesen (Hanefeld/Schaper 2004).

Diabetes Typ 2 Behandlung

Dieses Risiko lässt sich durch leitliniengerechte Behandlung einer Hypertonie und einer Hypercholesterinämie reduzieren.

Wie aber lässt sich der Diabetes selbst behandeln?

Es liegt nahe, die zur Diagnose führenden Symptome oder Parameter zu normalisieren. Die erste Arbeitshypothese lautet also: „Durch weitgehende Normalisierung der Blutzuckerwerte kann man die o.g. Risiken reduzieren.“

Seit den 50ger Jahren werden  Insulin und Sulfonylharnstoffe bei Typ-2-Diabetikern eingesetzt. Trotz jahrzehntelanger Forschung konnte die o.g. Arbeitshypothese nicht bestätigt werden. Was aber noch viel ausschlaggebender ist: Es ist in Vergessenheit geraten, dass es sich überhaupt um eine Arbeitshypothese gehandelt hat.

Erinnern wir uns: Eine ähnliche Situation gab es bezüglich der Herzrhythmusstörungen. Den verschiedenen LOWN-Klassen konnten unterschiedliche Lebenserwartungen zugeordnet werden. Es gab Medikamente, welche zu einer Rückführung in eine niedrigere LOWN-Klasse führten. Diese wurden jahrelang angewandt in der Hoffnung, damit auch die Lebenserwartung entsprechend zu erhöhen. Bis wir uns dann von Studien belehren lassen mussten, dass sich diese unter Therapie sogar verschlechterte.

Zurück zu Diabetes Typ 2: Es ist also an der Zeit, eine neue Arbeitshypothese aufzustellen. Ob diese sich dann bewahrheitet, bleibt weiteren Studien überlassen.

Es scheint, dass es sich auch beim Diabetes Typ 2 um eine heterogene Gruppe handelt. Also versuchen wir einmal, hier eine Einteilung vorzunehmen. Dazu habe ich mir mein eigenes Patientenkollektiv noch einmal genauer angesehen. Dabei bin ich zu folgender Einteilung gekommen:

  1. 81 adipöse Typ-2-Diabetiker
  2. 5 ehemals adipöser Typ-2-Diabetiker, sekundär insulinpflichtig
  3. 25 ehemals adipöser Typ-2-Diabetiker, diätetisch oder mit Metformin behandelt
  4. 21 Diabetiker mit fortgeschrittenem Alter
  5. 5  Typ-1-Diabetiker
  6. 15 Typ-3-Diabetiker

Die Gruppen 1 bis 4 wollen wir Diabetes Typ 2-1 bis Diabetes Typ 2-4 nennen, wobei die größte Gruppe, Diabetes Typ 2-1, offensichtlich unsere Problemgruppe ist.

In der zweiten Gruppe scheint die in jüngster Zeit diskutierte Problematik des Untergangs der Beta-Zellen als Krankheitsfolge ausschlaggebend zu sein. Eventuell könnte man diese Form als Untergruppe des Diabetes III ansehen.

Die dritte Gruppe besteht aus ehemaligen Typ-2-1-Diabetikern, die erheblich an Gewicht abgenommen haben und einen durchschnittlichen HbA1c-Wert von 5,9 aufweisen.

Bei der vierten Gruppe scheint es im Rahmen des Alters zu einer „Unschärfe“ des Glukosestoffwechsels zu kommen. Die Patienten zeigen sehr moderate HbA1c-Werte und sind diätetisch gut zu behandeln. Es handelt es sich um den eigentlichen „Altersdiabetes“.

Wenden wir uns jetzt also im Folgenden der Problemgruppe Diabetes Typ 2-1 zu.

Nehmen wir einfach mal an, dass der erhöhte Blutzucker zwar ein pathologisches Symptom, aber nicht das eigentlich krankmachende Agens ist. Tatsächlich ist ja auch beim Diabetes Typ 1 nicht die Hyperglykämie, sondern der Glukosemangel in der Zelle das eigentlich krankmachende.

Neue Arbeitshypothese:
Bei dem Diabetes mellitus Typ 2-1 handelt es sich um eine Dekompensation der Energiespeicherung bei Überernährung. Dabei kommt es zu einer überhöhten Glukosekonzentration in der Zelle, welche zu Zellschädigung führt. Die Insulinresistenz ist eine Folge der Glucoseübersättigung.

Ein übermäßiges Nahrungsangebot mündet nach Verstoffwechselung in einer Adipositas. Man kann sich nun vorstellen, dass die Speicherkapazitäten des Körpers nicht unbegrenzt sind. Diese Grenzen werden individuell unterschiedlich, vermutlich auch genetisch bedingt sein. Ebenso sind sie abhängig von einer metabolischen Belastung zum Beispiel durch Kortison oder eine Schwangerschaft.

Ziel eines optimalen Stoffwechsels ist es, die Glukose  als wertvolle Ernährungsbasis weitgehend zu utilisieren, d.h. mittels Insulin den Zellen zuzuführen, dabei aber einen Mindest-Blutzucker-Spiegel zur Aufrechterhaltung des Hirnstoffwechsels zu erhalten. Gehen wir von einem Glukose-Überschuss in den Zellen aus, so wäre eine weitere Glucose-Aufnahme unerwünscht.

In der Literatur findet sich als Definition des Diabetes mellitus  ein absoluter bzw. relativer Insulinmangel mit folgender chronischer Hyperglykämie. Diese Definition setzt voraus,  dass es das Ziel eines optimalen Stoffwechsels ist, den Glukosespiegel im Blut in einem bestimmten Bereich konstant zu halten. Meines Erachtens wird hier der Glokosekonzentration im Blut zuviel Wert beigemessen.

Bei Prof. Haller finden wir interessante Angaben über die molekularen Mechanismen der diabetischen Gefäßschädigung.
Er schreibt:

„In Geweben mit Insulin-unabhängiger Glukoseaufnahme (Nieren, Retina etc.) führt die chronische Hyperglykämie zu einer Zunahme des intrazellulären Glukosegehaltes. Dieser Überschuss an Glukose wird zu Sorbitol abgebaut.“ … „Die Akkumulation von Sorbitol in der Zelle wird begleitet durch einen Anstieg der intrazellulären Osmolalität“ … „Ein weiterer Mechanismus ist die Entstehung von nicht-enzymatischen glycolysierten Molekülen. Diese so genannten „Advanced Glycation End Products (=AGE)“ entstehen durch die nicht-enzymatische Glykierung von Aminosäuren und Proteinen.“ … „Eine vermehrte Bildung von AGEs ist in den Seren von Patienten mit diabetischer Nephropathie nachgewiesen worden.“ 

Man kann vermuten, dass der oben beschriebene pathogene Prozess nicht nur durch Insulin-unabhängige Glukoseaufnahme entsteht, sondern dass auch die übermäßige insulinabhängige Glukoseaufnahme die gleichen Folgen zeigt.

These: Die Insulin-Resistenz  ist Ausdruck einer Dekompensation der Glukose-Aufnahme bei überfülltem Speicher.

Unter dem Gesichtspunkt einer pathologisch überhöhten Glukosekonzentration in der Zelle kann man die Insulinresistenz mit folgender Hyperglykämie als Schutz der Zelle vor weiterer Glokoseüberfrachtung betrachten. Ebenso kann eine gesteigerte Gluconeogenese als Entlastung angesehen werden.

Unter den oben beschriebenen Gesichtspunkten wäre auch verständlich, warum die Polyneuropathie so häufig schon vor den erhöhten Blutzuckerwerten zu beobachten ist.

Unsere neue Arbeitshypothese würde für die Therapie des Diabetes mellitus Typ 2-1 folgendes ergeben:

  1. Sinnvoll ist jede Art der Gewichtsreduktion
  2. Metformin ist sinnvoll 
  3. Exanide sind sinnvoll
  4. Alle Medikamente, welche die Blutglukose senken, indem die Glukose in die Zellen transportiert wird, sind grundsätzlich und dauerhaft kontraproduktiv.

Ausnahmensituationen könnten sich ergeben, wenn zeitweilig eine normal-niedrige Blutglukose vorteilhaft ist:

  1. In der Schwangerschaft (Diabetes mellitus Typ4), da die Blutglukose als Substrat für das Embryo eingestellt werden muss.
  2. Möglicherweise perioperativ
  3. Möglicherweise während einer Akuterkrankung

Unter diesen Annahmen ist es nun verständlich, warum eine Polyneuropathie so häufig schon vor Diagnose des Diabetes gestellt wird. Denn es handelt sich ja um einen Zellschaden durch Glukoseüberlastung, welcher unabhängig von der Dekompensation der Gukoseaufnahme vonstatten geht.

Zusammenfassung

Es wird die These aufgestellt, dass es sich bei Diabetes mellitus Typ 2 um eine Dekompensation der Energiespeicherung bei Überernährung handelt. Dabei kommt es zu einer überhöhten Glukosekonzentration in der Zelle, welche zu Zellschädigung führt. Die Insulinresistenz ist eine Folge der Glucoseübersättigung der Zellen.